DAS WITTHOH-FRÄULEIN

Die Handwerker von Tuttlingen verkauften früher ihre Waren auf den Messen und Jahrmärkten der umliegenden Städte. Auf großen Marktwagen, die hoch mit Warentruhen beladen waren, wurden die Güter fortgeführt. Die Fuhren gingen weit ins Land hinein, da die Messen von Stuttgart, Frankfurt, Freiburg, Basel, Zürich, Konstanz und Ulm besucht wurden. Die Warenzüge, die nach solchen großen Städten gingen, bestanden oft aus vielen Marktwagen. Die Handwerker gingen mit ihren Frauen und Töchtern neben dem Fuhrwerk einher und mußten oft tagelang wandern, bis sie an ihr Ziel kamen.

In einer mondhellen Nacht fuhr einst ein Warenzug wieder die Witthohsteige hinauf, um auf die Züricher Messe zu fahren. Kurz vor Mitternacht wurde der “Radschuh” erreicht, wo Halt gemacht wurde. An dieser Stelle pflegte man die Vorspanne abzulösen, und die Tiere konnten sich verschnaufen. Die Teilnehmer des Zuges unterhielten sich in dieser Zeit darüber, ob heute wohl das Spitzenfräulein auch erscheinen werde, das alle Fuhrwerke in der Mitternachtsstunde vom “Radschuh” bis zum Kreuzweg nach Emmingen begleiten mußte. Das Spitzenfräulein war eine arme Seele, die geistweis umgehen mußte. Sie hatte nach der Sage an Gott gezweifelt und war auf der Fahrt über den Witthoh eines plötzlichen Todes gestorben.

Die arme Seele konnte nur erlöst werden, wenn ein mitleidiger Mensch ihr die ewige Ruhe wünschte. Das Spitzenfräulein war von vielen Reisenden schon wiederholt gesehen worden, aber keiner hatte es gewagt, das Fräulein anzusprechen. Man wußte ja nicht, ob es ein guter oder ein böser Geist war. So hatten die Fuhrleute also auch heute bei ihren Leitrossen plötzlich bemerkt, daß ihnen auf der mondhellen Straße eine weiße Gestalt entgegenkam. Als sie die Nähe der Pferde erreichte, standen diese wie vom Blitz getroffen plötzlich still. Das Witthoh-Fräulein schritt den Warenzug entlang, bis es zum Ende des letzten Fuhrwerkes gekommen war. Dort hatte es sich zwischen zwei Frauen gestellt, die auch im Zuge mitgingen. Die Gestalt war genau zu sehen. Auf dem Kopfe trug sie eine Spitzenhaube, deren lange Spitzen so weit über das Gesicht reichten, daß dieses kaum zu sehen war. Auch von den Ärmeln hingen die Spitzen so weit herab, daß sie ihre Hände bedeckten. Beim Gehen rauschten die Röcke, wie wenn sie von Seide wären.

Als das Spitzenfräulein jetzt zu laufen begann, setzte sich auch der Zug mit Roß und Wagen gleich wieder in Bewegung. Die fremde Gestalt schritt neben den beiden Frauen daher, als ob sie zur Reisegesellschaft gehörte. Die Frauen zitterten vor Angst und beteten im stillen die alte Beschwörungsformel: “Weich aus, weich aus, du böser Geist. Gott Vater, Sohn und Heil‘ger Geist uns Deine reiche Hilfe leist‘.” Die jüngere der beiden Frauen wollte die arme Seele gern erlösen und sie redete daher das Gespenst an und fragte: “Wollt ihr auf die Züricher Messe gehen?” Das Spitzenfräulein gab jedoch keine Antwort, sondern schritt mit dem Zuge weiter. So ging es über den Lohhof hinaus. Erst als der Kreuzweg bei Emmingen kam, trat das Spitzenfräulein unter das uralte Holzkreuz, machte einen tiefen Knicks und seufzte laut auf. “Jetzt oder nie”, dachte die mutige Frau. Sie trat auf das Fräulein zu und sagte: “Gott gebe eurer armen Seele die ewige Ruhe.” Bei diesem Wunsche verschwand plözlich die Gestalt. Es hörte sich dabei an, als ob etwas Hartes auf den Boden gefallen sei. Wirklich, da lag ein Gegenstand, der im Mondschein glitzerte und funkelte. Als die beiden Frauen den Fund näher betrachteten, war es eine wunderschöne goldene Brosche, mit prächtigen Edelsteinen besetzt. Seit dieser Zeit aber ist das Witthoh-Fräulein nie mehr gesehen worden.
 

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